Freitag, 7. Dezember 2018

Die EU-Perspektiven Bosniens – Ein Neuansatz ist nötig

Vortrag des Pharos-Vorstandsmitglieds Dieter Fuchs beim Pharos/VHS-Informationsabend am 16.11.2018 in Echterdingen

Ausgangslage

Stellen Sie sich vor, die erweiterte Metropolregion Stuttgart, inklusive Heilbronn, Schwäbisch Hall und Tübingen mit rund 3,5 Millionen Einwohnern, würde innerhalb von vier Jahren praktisch ihre gesamten Exportmöglichkeiten verlieren. Man wäre zurückgeworfen auf den eigenen Regionalmarkt, bekäme auch keine Bundessteuern mehr, weil auch der Rest Deutschlands seine wirtschaftlichen Verbindungen weltweit verloren hätte. Die wirtschaftliche Lage würde sich dramatisch verschlechtern. In anderen Teilen der Bundesrepublik würden ethnisch unterlegte Unabhängigkeitskriege beginnen.

Bayern und Rheinland-Pfalz würden beginnen, Gebietsansprüche zu stellen, die die Region um Stuttgart in drei Teile zerreißen würden. Die Katholiken in der Region wollten zu Bayern, die Protestanten in die Pfalz, die Nichtreligiösen wollten die Region als eigenständige Gebietseinheit erhalten. Krieg würde beginnen zwischen den drei Gruppen, von außen gesteuert von Rheinland-Pfalz und Bayern.

100.000 Menschen würden dabei sterben und mindestens 250.000 fliehen, also etwa 10 Prozent der Bevölkerung. Ethnische Säuberungen hätten die drei vorher überwiegend gemischten Bevölkerungsgruppen weitgehend getrennt und von ihren angestammten Besitztümern vertrieben. Und nach drei Jahren würden die UN den Krieg mit einer Friedensvereinbarung beenden, die den Konflikt weitgehend einfriert, ohne die Grundkonflikte zu beseitigen. So war die Situation in Bosnien-Herzegowina zwischen 1989 und 1995.

Seit dem Dayton-Vertrag besteht Bosnien und Herzegowina nun aus zwei Entitäten: der Föderation Bosnien und Herzegowina (Federacija Bosne i Hercegovine) mit 2.371.603 Einwohnern (62,55 %) und der Republika Srpska mit 1.326.991 Einwohnern (35 %). Die Volkszählung 2013 ergab 50,1 Prozent Bosniaken (größtenteils Muslime), 30,8 Prozent Serben (größtenteils Orthodoxe) sowie 15,4 Prozent Kroaten. Beide Entitäten verfügen jeweils über eine eigene Exekutive und Legislative. Die Föderation Bosnien und Herzegowina setzt sich aus zehn Kantonen zusammen, die wiederum über eigene Zuständigkeiten verfügen.

Neben den Regierungen und Parlamenten der beiden Entitäten gibt es eine gemeinsame Regierung und ein gemeinsames Parlament für den Gesamtstaat. Die drei Volksgruppen haben je einen Vertreter in einem dreiköpfigen Staatspräsidium. Im Staatspräsidium muss jeweils ein Vertreter aller drei Nationen vertreten sein. Die Bosniaken und Kroaten wählen ihre beiden Vertreter in der Föderation, die bosnischen Serben ihren in der Republika Srpska. Der Vorsitz des Staatspräsidiums wechselt alle acht Monate. Faktisch übt einen Teil der Staatsgewalt jedoch der Hohe Repräsentant als Vertreter der internationalen Gemeinschaft aus.

Die gesamtstaatliche Regierung ist zuständig für die Außen- und Geldpolitik, die Außenwirtschaftsbeziehungen, Verteidigung, Zoll und indirekte Steuern, Verfolgung und Aburteilung von Kriegsverbrechern und Bekämpfung der Schwerkriminalität. Die wichtigsten anderen Kompetenzen sind bei den Enditäten und Kantonen angesiedelt. Die bosniakisch-kroatische Föderation auf der einen Seite und die Republika Srpska auf der anderen sind zum Beispiel jeweils eigenständig für Wirtschaft, Bildung und innere Sicherheit zuständig.

Fraglos ist das eine komplizierte politische Struktur. Andererseits müsste sie nicht automatisch zu einer Blockade des Systems führen, wenn die politischen Führer an einer konstruktiven Zusammenarbeit interessiert wären. Waren sie aber nie und sind es bis zum heutigen Tag nicht. Vor allen das erklärt den weitgehenden Stillstand im Land auf der höheren politischen und wirtschaftlichen Ebene.

Aktuelle Lage

Die EU pumpte zwar von 2007 bis 2017 rund neun Milliarden Euro an Vorbeitrittshilfen in die Region, davon fast drei Milliarden nach Serbien, um die Verwaltung und Infrastruktur zu stärken, Rechtsstaatlichkeit und nachhaltiges Wirtschaften sicherzustellen, die Wettbewerbsfähigkeit zu fördern und die Demokratie zu unterstützen. Dennoch sind die Defizite immer noch immens. Weil die Region grundlegende Werte der EU missachte, würden Investoren abgeschreckt und der Handel gebremst, heißt es in einem Strategiepapier der EU-Kommission.

Die Volkswirtschaften des Westbalkans seien "durch mangelnde Wettbewerbsfähigkeit gekennzeichnet, was unter anderem auf ungebührliche politische Einmischung und die Unterentwicklung des Privatsektors zurückzuführen ist, die das Wachstum bremst und die Beschäftigungsaussichten junger Menschen schmälert". Die Arbeitslosigkeit der Jüngeren inklusive der Hochschulabsolventen in BH liegt bei 60 bis 70 Prozent, also etwa auf dem Niveau vieler Entwicklungsländer.

Die Fertilitätsrate pro Frau lag 2016 bei 1,28 Kindern und war damit eine der niedrigsten der Welt. Bosnien und Herzegowina ist das Armenhaus Europas. Die Kaufkraft pro Kopf beträgt umgerechnet 11.404 US-Dollar im Jahr, wie der Internationale Währungsfonds berechnet hat. Damit liegt das Land noch hinter dem Irak oder Sri Lanka. Die Wirtschaft wächst jährlich um etwa 3 Prozent.

Dušan Reljić, Südosteuropa-Experte und Leiter des Brüsseler Büros der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), appelliert deshalb zu wesentlich mehr Finanzhilfen der EU für die Region. Weil die sechs Westbalkan-Länder allein kein ausreichendes Wirtschaftswachstum schaffen könnten, sollten sie Zugang zu den Infrastrukturfonds erhalten, so wie das Bulgarien und Rumänien noch vor dem EU-Beitritt ermöglicht wurde. Statt wie derzeit zwei oder drei Prozent Zuwachs beim Bruttoinlandsprodukt seien sechs Prozent nötig, nur dann könne der Westbalkan in drei Jahrzehnten bis zum EU-Durchschnitt aufholen.

Die Bevölkerungszahl sinkt seit den 1990er Jahren infolge des Krieges, aufgrund von Auswanderung und wegen der niedrigen Geburtenrate. Für 2050 wird noch mit knapp 3 Millionen Einwohnern gerechnet. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung wäre dann mit über 50 Jahren eines der höchsten der Welt. Die Zukunftserwartungen der Menschen gehen gegen Null. Und sie ziehen daraus ihre Konsequenzen: Bosnien hat wie erwähnt rund 3,5 bis 3,7 Millionen Einwohner. Eine Million Staatsangehörige leben bereits im Ausland. Laut dem letzten Zensus von 2015 würde die Hälfte der Bevölkerung am liebsten im Ausland arbeiten. Seit 2013 haben etwa 150.000 Bosnier ihre Heimat verlassen. Vor allem die Dörfer und kleinen Städte leeren sich.

Die Auslandsvertretungen auf dem Balkan sind bereits überfordert von der hohen Zahl der Anträge für Arbeitsvisa in Deutschland. Wie aus einem dem SPIEGEL vorliegenden Vermerk des Auswärtigen Amts hervorgeht, hat sich die Zahl der bearbeiteten Visa in den sechs Staaten des Westbalkan im ersten Halbjahr 2018 auf rund 52.000 erhöht. Das sind fast doppelt so viele wie im selben Zeitraum 2015. Etwa die Hälfte davon stammt aus Bosnien.

Für Bosnien, Serbien, Montenegro, das Kosovo, Mazedonien und Albanien gilt seit 2016 eine Sonderregelung. Die deutschen Behörden gehen mit Asylanträgen aus diesen Ländern strenger um. Im Gegenzug dürfen deren Staatsangehörige nach Deutschland kommen, wenn sie ein Arbeitsangebot vorlegen können. Meist geht es um Jobs im Baugewerbe, in der Gastronomie oder der Pflege. Eine Mitgliedschaft in der EU, auf die die Bosnier seit 23 Jahren warten, würde im Übrigen an diesem Auswanderungstrend nichts ändern, im Gegenteil, wie man an Bulgarien und Rumänien sieht.

Die Freizügigkeit erleichtert die Auswanderung. Bei einem perfekten politischen Verlauf in Bosnien und in der EU kommen die Bosnier in etwa 20 Jahren auf den EU-Durchschnittsverdienst. Was sollte junge Menschen also davon abhalten, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen, den der Reichtum wohnt um die Ecke. Zu bedenken ist auch: 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts besteht jetzt schon aus Geldüberweisungen aus dem Ausland, von emigrierten Bosniern. Dieser Anteil würde durch mehr Integration wachsen.

Politische Verhältnisse in Bosnien

Die EU-Kommission spricht als Ursache der weitgehenden politischen und wirtschaftlichen Stagnation vom so genanntem state capture, der feindlichen Übernahme des Staates, also einem überproportionalen Einfluss der Parteien und ihrer ideologischen Anhänger. Die kollektiven Verbände, versammelt unter dem Banner von Ideologien, Verwandtschaft, Religion, üben die eigentliche Staatsgewalt aus. 50 Prozent der Bosnier arbeiten beim Staat oder bei den großen Staatsfirmen, die weitaus besser zahlen als die Privatwirtschaft. Diese lukrativen Stellen werden an treue Parteigänger vergeben.

Jetzt im Oktober waren wieder Wahlen in Bosnien und Herzegowina: Viele Staatsbedienstete mussten per Handyfoto hinterher beweisen, dass sie im Sinne der Regierungsparteien abgestimmt hatten. Im Wahlkampf drohten führende Politiker der Republica Serbsca den Wählern damit, Pensionserhöhungen zurückzunehmen, Gehaltserhöhungen in staatlichen Betrieben zu kappen und Betriebe zu schikanieren, wenn man dort nicht für sie, die Regierungspartei SNSD, stimme.

Diese feindliche Übernahme des eigentlich für jeden Bürger nach Recht und Ordnung zuständigen Staates wird nicht nur von der EU registriert. Auch mancher Insider macht sich darüber Sorgen. Der Bürgermeister von Pristina (Shpend Ahmeti) etwa ist überzeugt, dass dieses „state capture“ und die damit verbundene Rechtsunsicherheit zu den wichtigsten Anliegen der EU gehören müsste, ohne die eine Mitgliedschaft unmöglich sein müsse. Und er fragt sich, ob die EU dazu willens und in der Lage ist angesichts kurzfristiger geostrategischer Interessen.

Die bestimmenden Nationalisten in Bosniens Politik werden wie zu Kriegszeiten von außen unterstützt. Die kroatische Präsidentin Kolinda Grabar Kitarovic (HDZ) etwa hegt Sympathien für die bosnische Pseudo-Republik Herceg-Bosna – Doppelpass!? Die kroatische politische Elite findet das gut, der Kroaten-Führer Dragan Covic, bis zu den Wahlen im Oktober Mitglied im bosnischen Staatspräsidium, und der frühere Präsident der RS, Milorad Dodik, der jetzt im Staatspräsidium sitzt, lehnen den bosnischen Gesamtstaat in seiner jetzigen Form ab. Dodic genießt die Unterstützung Belgrads, trotz Serbiens EU-Ambitionen. Auch der Kroate Covic befürwortet eine dritte Endität, wenn schon nicht einen unabhängigen Staat Herceg-Bosna, der sich dann Kroatien irgendwann anschließen könnte.

Die bereits erwähnten Wahlen in Bosnien im Oktober sind als weiterer Meilenstein in der politischen Entwicklung des Landes besonders aufmerksam verfolgt worden. Zwar haben die völkisch orientierten Parteien durchweg verloren. Sowohl die RS-Regierungspartei SNDS verlor leicht als, auch der erwähnte HDZ-Kandidat Covic sowie die bosniakische SDA. Doch wie bei jedem Wahlgang seit dem Kriegsende 1995 haben unter dem Strich die Nationalisten der drei Volksgruppen obsiegt.

Als kroatischer Vertreter im dreiköpfigen Staatspräsidium des Bundesstaates Bosnien wurde der Chef der Partei Demokratische Front, Željko Komšić mit über 51 Prozent der Stimmen gewählt. Trotzdem wurde der Serbe Milorad Dodik ebenso ins Präsidium gewählt wie die SNDS in der RS und der Vertreter der Bosniaken im Staatspräsidium, der Jurist Šefik Džaferović von der SDA. Die Ergebnisse der Wahl in Bosnien spiegeln die tiefe Spaltung des Landes wider. In den Parlamenten auf den verschiedenen Ebenen des Staates dominieren weiterhin die nationalistischen Parteien, selbst wenn bürgerliche Kräfte einige Zuwächse erzielen konnten.

Auch bei der Wahl zum dreiköpfigen Staatspräsidium haben sich wie erwähnt bei Serben und Bosniaken die Nationalisten durchgesetzt. Allein der neu gewählte kroatische Vertreter Željko Komšić darf als Hoffnungszeichen für die Verfechter eines multiethnischen Staats gelten. Sein Erfolg könnte allerdings zum Pyrrhussieg werden, weil die unterlegenen kroatischen Nationalisten von der HDZ nun eine Blockadehaltung angekündigt haben. Die Wahlbeteiligung lag gewohnt niedrig bei 53 Prozent.

Die kroatisch-bosniakische Föderation, also das eine“Bundesland“ neben der RS, steht nach dieser Wahl vor einer neuen Zerreißprobe. Der unterlegene Čović drohte bereits, Bosnien in eine „bisher nie gesehene Krise“ zu stürzen.

Als Hebel für die Wahlverlierer von der HDZ könnte dabei ein Urteil des bosnischen Verfassungsgerichts dienen, mit dem Teile des Wahlgesetzes für ungültig erklärt worden waren. Vor der Wahl war es jedoch – vor allem wegen Forderungen von Seiten der HDZ – zu keiner Neufassung gekommen, sodass die Partei nun die gesamte Gültigkeit der Wahl infrage stellen könnte. Ihr Angriffspunkt ist vor allem, dass die Serben in der Republika Srpska exklusiv ihren Vertreter für das dreiköpfige Präsidium bestimmen können, während der kroatische und bosniakische Vertreter in der gemeinsamen Föderation von Bürgern beider Volksgruppen gewählt wird – und damit eine Verfälschung des kroatischen Wählerwillens durch bosniakische Stimmen befürchtet wird.

Tatsächlich hat die HDZ eine sichere Basis im Lager der kroatischen Minderheit, die zumeist in der Herzegowina rund um Mostar angesiedelt ist. Innerhalb der Föderation fühlt sich zumindest ein Teil der bosnischen Kroaten an den Rand gedrängt und fordert wie erwähnt eine eigene, dritte Entität für ihre Volksgruppe. Komšić dagegen setzt auf Zusammenhalt. Er stammt aus Sarajewo und hatte im Krieg aufseiten der Bosniaken gekämpft. Damit spricht er also jenseits der ethnischen Trennlinien auch andere Wählerschichten an. Nun kündigte er am Wahlabend an, er werde „allen Bürgern dienen, auch wenn sie mich nicht gewählt haben“.

Weitere heftige Konflikte dürfte die Wahl von Milorad Dodik zum serbischen Vertreter im Staatspräsidium auslösen. Der durchaus charismatische Politiker bestimmt schon seit rund 20 Jahren die Geschicke der Republika Srpska, erst als Premierminister, dann als Republikspräsident. Zunächst hatte er mit seinem Bund unabhängiger Sozialdemokraten (SNSD) noch als moderater Gegenentwurf zur SDS um den mittlerweile als Kriegsverbrecher verurteilten Radovan Karadžić gegolten. Inzwischen aber wurde er wegen seines nationalistischen Kurses zum Beispiel aus der Sozialistischen Internationalen ausgeschlossen. Er dient sich Russlands Präsident Wladimir Putin an, den er in der Woche vor der Wahl im russischen Sotschi traf.

Dodik sitzt nun im Präsidium eines Staates, den er ablehnt. Seine Politik zielt ab auf eine Abspaltung der Republika Srpska und eine Anbindung an Serbien. Bosnien bezeichnet er stets als „gescheiterten Staat“ oder als „Teufelsstaat“. Bereits vor der Wahl hatte er angekündigt, dass er zu den Sitzungen des dreiköpfigen Präsidiums nicht nach Sarajewo kommen werde, sondern in seiner serbischen Republikhauptstadt Banja Luka bleiben wolle. 

Die Annäherung an die EU

In diesem Jahr gab es einige Initiativen der EU in Richtung Westbalkan, die das Thema wieder auf die Agenda brachten. Erst der Fortschrittsbericht der EU im April, dann ein spezieller Westbalkangipfel im Mai, ein Sondergipfel in London und schließlich die letzte Grundsatzrede des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker. Dieser sowie der Erweiterungskommissar Johannes Hahn vor allem plädieren für eine Beitrittsperspektive der Region für das Jahr 2025, weniger für Bosnien, eher für Serbien und Montenegro.

Für Hahn und speziell für Juncker ist die Sache klar. Zum einen stellt die ungelöste Balkanfrage als einer Region mitten in der EU tatsächlich ein virales politisches Problem dar. Nicht zuletzt, weil Russland, China und die Türkei immer deutlicher präsent sind in der Region und damit auch die EU tangieren. Zum anderen aber sucht die Kommission unter Juncker auch mit aller Kraft ein neues Narrativ, eine Idee, die der kriselnden EU wieder Rückenwind verleiht, sie aus der Defensive bringt, ihren Gründergeist erneuert.

Deshalb wurde die Zeitumstellung als Thema entdeckt oder eben die Erweiterung mit dem Westbalkan. Doch selbst in Serbien, mit dem die Beitrittsverhandlungen der EU relativ weit gediehen sind, gibt es immer noch nationalistische Kräfte, die die Bedingungen für den Beitritt als Verlust der nationalen Seele betrachten. Auf sie muss Rücksicht genommen werden in der serbischen Innenpolitik. Das bremst diesen im Vergleich zu den anderen Balkanstaaten schon recht weit gediehenen Annäherungsprozess und ist schwer kalkulierbar. Und Bosnien ist aufgrund seiner politischen Verhältnisse noch nicht einmal in der Lage, eine von einer Mehrheit im Land getragene EU-Initiative zu formen und zu verfolgen.

Bosnien und Herzegowina ist seit November 2000 in den Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess eingebunden. Das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Bosnien und Herzegowina wurde am 16. Juni 2008 nach dreijähriger Verhandlungsdauer unterzeichnet. Am 15. Februar 2016 hat das Land seinen Beitrittsantrag bei der EU gestellt.

Doch schon 2010 mahnte der europäische Rat: „Die politischen Führer müssen nun konstruktiv in einen politischen Dialog eintreten und neue Regierungen bilden, die die EU-Agenda in den Mittelpunkt ihres Programms stellen. Die politischen Führer tragen die Hauptverantwortung dafür, dass durch Kompromissbereitschaft und gemeinsames konstruktives Vorgehen konkrete und spürbare Fortschritte – auch bei der Integration in die EU – erzielt werden.“ Dieser Passus findet sich fast wortgleich wieder im Fortschrittsbericht der EU über Bosnien in diesem Jahr! Es ist ein Bericht, der zwar diplomatisch formuliert ist, aber trotzdem klar macht, dass es in den vergangenen acht Jahren auf politischer Ebene kaum Fortschritte gegeben hat.

Es ist durchaus nicht so, dass überall totale Stagnation herrscht. Sowohl die EU als auch die EU-nahe Denkfabrik ESI etwa beschreiben in Papieren und Studien die Fortschritte im Alltag. Die ethnischen Gruppen leben wieder mehr gemischt, in ihrem Miteinander spielt ihre Zugehörigkeit kaum eine Rolle. Aber: in der Politik kommt das kaum an. Dieser Befund und die anderen politischen Baustellen der EU machen es schwer, für die nächsten 10 Jahre an einen Beitritt Bosniens zu glauben.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte dementsprechend in London mit Blick auf die weitere Annäherung der Westbalkan-Staaten an die EU: Es gehe darum, „die Region mit einer europäischen Perspektive auszustatten“. Eine Formulierung, die es so schon seit 20 Jahren gibt. Die nächstes Jahr beginnenden Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Mazedonien würden wohl eher viele Jahre in Anspruch nehmen, so Merkel. Die von Juncker und Johannes Hahn ausgegebene allgemeine Beitrittsperspektive bis zum Jahr 2025 lehnt nicht nur Merkel ab. "Ich halte von diesem Zieldatum nichts", bekräftigte sie in Sofia. Ein EU-Beitritt müsse " auf Fortschritten in der Sache" basieren.

Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erklärte, eine Erweiterung komme nicht in Frage, "bevor wir alle nötigen Sicherheiten haben". Er plädierte bereits mehrmals in diesem Jahr, dass vor einer Erweiterung eine Vertiefung notwendig sei. Auch der Vorsitzende der stärksten Fraktion im EU-Parlament und womöglich Nachfolger von Juncker, der in 10 Monaten abtritt, Manfred Weber, hält von einer schnellen Erweiterung nichts. Eine neuerliche Vergrößerung der Union sei nur vorstellbar, wenn sie für die Bürger der EU klar erkennbare Vorteile bringe. In ihrer derzeitigen Verfassung sei die EU schlicht nicht bereit für die Aufnahme von sechs neuen Mitgliedern.

Fazit

Das ist der Status quo: Die politischen Verhältnisse in Bosnien werden auf absehbare Zeit nötige Reformen erschweren. Die EU ihrerseits wird alle Hände voll zu tun haben, um die Renationalisierung innerhalb ihrer Reihen in den Griff zu bekommen. Übrigens ist es interessant, wie diese Staaten, etwa Polen oder Ungarn, Bündnisse schließen mit den nationalen Kräften auf dem Balkan, die ihrerseits, wie erwähnt, von Kroatien über Serbien bis Makedonien, eine renationalisierte Politik betreiben. Gleichzeitig wird der Migrationsdruck auf dem Westbalkan, insbesondere in Bosnien, weiter wachsen. Diese Tatsache zu ignorieren ist meiner Ansicht nach nicht zielführend für die Entwicklung der Region.

Eine Doppelstrategie liegt also nahe:

A) Die Annäherung an die EU muss weiter vorangetrieben werden, aber ohne das Junktim, damit die Migration bremsen zu können. Und im Übrigen auch ohne Blick auf das Engagement Russlands, Chinas und der Türkei. Der Annäherungsprozess muss weiter als starkes Druckmittel genutzt werden, um politische und wirtschaftliche Reformen durchzusetzen, sogar auch nach einer möglichen Mitgliedschaft. Einhergehen muss dies mit einem stärkeren finanziellem Engagement, etwa mit der Anbindung an den Infrastrukturfond.

B) Die Entwicklung einer neuen, speziell für den Westbalkan und oder Bosnien konzipierten Migrationspolitik ist nötig, entweder bilateral oder auf EU-Ebene. Die deutsche wie europäische Politik hat auf diesem Feld Nachholbedarf. Zwar sind mit Visafreiheit und Sonderarbeitserlaubnissen wichtige Schritte unternommen worden. Doch der Ansatz muss grundlegender sein, um die Abstimmung der Bosnier mit den Füßen vielleicht sogar für beide Staaten, Deutschland und Bosnien, vorteilhaft zu gestalten.

Welche Instrumente sind denkbar?
  • Kommen Akademiker zu uns, könnten die Anwerbefirmen dem bosnischen Bildungssystem einen Refinanzierungsbeitrag für die akademische Ausbildung zahlen
  • Gemeinsame Ausbildungsprojekte könnten bosnische Institutionen stärken und gleichzeitig den mitteleuropäischen Ausbildungsstandard von Anfang an setzen
  • Binationale Refinanzierungsfonds für die Ausbildung sind denkbar, ähnlich dem deutschen Bafög
  • Die Verpflichtung zur Heimatarbeit für Emigrierte in kritischen Berufen, etwa bei Ärzten oder Ingenieuren, ist zu diskutieren
Diese und andere noch zu findende Maßnahmen könnten jungen Bosniern eine Perspektive geben. Bosnien selbst wäre nicht alleine gelassen. Investitionen aus Geldmitteln dieser Politik könnte dazu führen, dass der eine oder andere zurückkehrt, weil er einen vernünftigen Arbeitsplatz findet. Es ist ein Schritt neben dem bisher gegangenen Weg, aber einer, der sich lohnt, ausprobiert zu werden.

Quellen und Weiterführendes:

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