"Ciric fühlt sich wie eine Gefangene einer Geschichte, die ihr keine Möglichkeit auf einen Neuanfang bietet. Dabei ist sie erst 19."
Mittwoch, 24. Juni 2015
Lea (19) aus Sarajevo
Bald jähren sich der Massenmord von Srebrenica und das Ende des Bosnienkrieges zum 20. Mal. Beide Jahrestage werfen ihre Schatten voraus. So berichtet beispielsweise Ulrich Ladurner in seinem Zeit-Blog "Post von unterwegs" seit ein paar Tagen aus Sarajevo. Neben der traurigen Geschichte von der bosnischen Milch und einem Lagebericht aus dem Warteraum Europas wird in dem Posting "Im Frieden geboren, vom Krieg belastet" mit Lea Ciric eine Jugendliche aus Sarajevo porträtiert:
Sonntag, 21. Juni 2015
Hass und Himbeeren
Ein „unpolitischer“ Reiseversuch zwischen Sarajevo und Belgrad
Gastbeitrag von Lennart Will
Das serbokroatische Wort für Hass besteht in der Hauptsache aus fünf Konsonanten und ist für mich als Deutschmuttersprachler vor allem unaussprechlich: mŕžnja. In seiner Hackigkeit möchte ich es beinahe lautmalerisch nennen. Onomatopoetisch – denke ich. Vrrroom Vrrroom. Wuff wuff. Ratatat. Peng peng. Mŕžnja mŕžnja. Ein Wort wie eine Panzersperre. Ich benutze es zum ersten Mal im Sommer 2013. Es steht auf Seite 305 in Langenscheidts Universal-Wörterbuch Serbokroatisch, dem „unentbehrlichen Hilfsmittel auf einer Reise nach Jugoslawien“, 106 mal 72 Millimeter, siebzehnte Auflage 1994-oh-was-ist-alles-seitdem-passiert. Ratatat. Peng peng. Mŕžnja mŕžnja. Serbien, Serbien: Wie soll ich sprechen, wie soll ich denken, wer soll ich sein in diesem Land?
Sprachbunker
Genauer bin ich in Zentralserbien, auch Engeres Serbien genannt. Im Westen dieses engen oder engeren Serbiens oder Serbiens im engeren Sinne liegt Ivanjica, 12.000 Einwohner, und in Ivanjica die Straße Šljivići, die sich ausgehend vom einzigen Kreisverkehrs des Städtchens, teils geteert, teils unbefestigt einen Hügel hochzwingt. Und dort oben, wo die Straße aufhört, bevor Wälder und Himbeerplantagen beginnen im Abendsonnenlicht, steht rechterhand ein eingeschossiges Einfamilienhaus mit drei Zimmern und Bad.
Und in der Wohnküche ein Sofa und auf dem Sofa ich und in meinen Händen der weichgeblätterte Langescheidt. Und neben mir Miloš Grujović, 16 Jahre und ein paar Zentimeter größer als ich, mit kurzgeschorenem blonden Haar und aufgeweckten Augen, pubertierend und ein wenig Macho, der mir soeben mit einem provokanten Lächeln und einer noch provokanteren Geste auf Höhe seiner Kehle klarmacht, dass man alle Albaner umbringen müsste.
In den simplen Ein- bis Zwei-Wort-Sätzen, die Miloš verwenden muss, damit ich nachvollziehen kann, was er sagt, knittert sich die Sprache zu starren Sinnblöcken zusammen. „Albaner“ und „töten“ gehören hier so unvermeidlich zusammen wie „Soldat“ und „Held“ oder „Deutschland“ und „Arbeit“. Kleine Bunker, in denen man sich als gefühlter Analphabet kaum bewegen kann. Ich habe vor dieser Reise zwei Stunden eines Serbokroatischkurses besucht, davon abgesehen spreche ich kein Serbisch oder Kroatisch oder Kroatoserbisch, Bosnisch oder Montenegrinisch und auch keine verwandte slawische Sprache; habe mich also freiwillig in diese ungewisse Bunkerlandschaft begeben.
Wie eine Warnkarte ziehe ich das kleine gelbe Buch hervor. Miloš hat sich in den letzten 24 Stunden daran gewöhnt, dass ich mir damit einen diplomatischen Wartebereich, eine entmilitarisierte Zone schaffe, in der ich nach den richtigen Worten suchen kann. Jetzt wartet er auf meine Antwort. Seine Mutter Mirjana räumt uns gegenüber den Esstisch ab und lauscht. Ich beginne zu blättern...
Bi Äitsch
Bevor ich vor zwei Tagen über die serbische Grenze kam, verbrachte ich eine Woche in Sarajevo, fünf Tage davon als Teil einer Exkursionsgruppe. „Konfliktsensible Entwicklungszusammenarbeit in einer Post-Bürgerkrieg-Gesellschaft“, so war der Forschungsaufenthalt überschrieben, währenddessen wir ein rundes Dutzend internationaler Organisationen besuchten, die sich seit dem Ende des Bosnienkriegs 1995 in der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas angesiedelt haben.
OHC, UNDP, OHR, GIZ, ICMP, Akronymlabyrinthe, Korridore, Aufzüge, Metallscans, Besprechungsräume, Hosenanzüge, Krawatten, Abzeichen, Ränge, Flaggen und Fähnchen, Powerpointing, frustriertes Friedensdienstvokabular und politisch korrekte Fingerzeige, Aufschlussreiches hinter verschlossenen Türen, aber auch unnütze Antworten auf immergleiche Fragen.
Schnell, sehr schnell, so hatte ich das Gefühl, konnten wir uns im kosmopolitischen Sarajevo die aktuelle Lage des Landes erschließen lassen. Konnten lernen, wie man als „Internationaler“ über die politischen Wirren Ex-Jugoslawiens so denkt und schwadroniert. Konnten einstimmen in die deutschen und englischen Jammerchoräle über das unregierbare Bosnien-Herzegowina, einen „Failed State“, und lernten im Gespräch mit Sekretären, Institutsleitern und Heads of Office, locker mit den Buchstaben „BH“ [biː eɪtʃ] zu jonglieren.
Ein Land mit einer hochkomplexen politischen Geschichte, im Jargon der internationalen Fachkräfte wendig heruntergekürzt auf zwei beschwörende Lettern. „Bi Äitsch“ – wir wissen ja, wovon wir reden. Das Land, in dem 1984 noch die Olympischen Winterspiele stattgefunden hatten, versunken in den letzten und blutigsten Krieg inmitten Europas und seitdem nicht wieder recht auferstanden.
Ruiniert und innenpolitisch lahmgelegt von einer korrupten Regierung nach der anderen, noch immer im Griff agitierender Parteien, die für ihren eigenen Machtgewinn weiterhin die verschiedenen Volksgruppen – (muslimische) Bosniaken, (orthodoxe) Serben, (katholische) Kroaten – gegeneinander ausspielen. Bei all dem an der kurzen Leine der internationalen Gemeinschaft, der EU, UN und ihrer resignierenden Vertretungen. 29 Prozent Arbeitslosigkeit. 45 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Und zwei Drittel aller Unter-35-Jährigen würden das Land verlassen – wenn sie könnten. „Bi Äitsch“, alles klar!?
Anders soll meine eigene kleine Forschungsreise durch Ost-Bosnien und Serbien aussehen, beschloss ich in der kriegsgezeichneten Multikulti-Stadt. Anders mein Zugang, anders mein Blick, anders meine Wegziele. Schon jetzt habe ich genug von dem vermeintlichen Wissen darüber, wie Politik und Kriege „auf dem Balkan“ gemacht werden.
Ich will wissen, wer die Menschen unabhängig von all den Konflikten, den politischen Selbstverortungen und kollektiven Leidensgeschichten sind. Will den Krieg am liebsten gar nicht thematisieren, gar nicht versuchen zu verstehen, was ohnehin unfassbar war und noch immer ist. Will die maschinengewehrsalvenzerschossenen Fassaden als das ansehen, was sie sind: längst alltäglich geworden in fast zwei Nachkriegsjahrzehnten, höchstens eine touristische Attraktion. Und will gerade dadurch dahinter blicken können. Geradezu unpolitisch will ich reisen, den Leuten begegnen, als gäbe es keine Spuren von Massengräbern in der Nachbarschaft und als hätte ich kein Interesse an ihnen als Kriegswaisen, sondern nur eines an der Normalität ihres jetzigen Lebens.
Himbeerhoffnungen
Ich verlasse Sarajevo zusammen mit Ingrid, Leiterin einer kleinen Stuttgarter Hilfsorganisation, die ich im Zuge der Exkursion kennengelernt habe. Wir wollen zur gleichen Zeit Richtung Serbien aufbrechen, also schlägt sie mir vor, sie in ihrem Camper zu begleiten: zunächst zu ihrem Projektdorf Fakovići an der bosnisch-serbischen Grenze und damit im serbischen Landesteil Bosniens, der Republika Srpska; und einen Tag später dann über die Grenze hinaus nach Zentralserbien.
Dankbar für diese Chance willige ich ein und so führt mich mein „unpolitischer“ Reiseversuch zuallererst just in einen kleinen Ort, dessen Antlitz und wirtschaftliche Lage symptomatisch für die Kriegsfolgen stehen könnten, der nur etwa dreißig Kilometer von Srebrenica liegt und zudem am Ufer der Drina, eines Grenzflusses, so geschichtsträchtig und geopolitisch aufgeladen wie schwerlich ein zweiter.
Wenn hier jemand einen Job hat, arbeitet er in Sechstagesschichten in den nahegelegenen Zink- und Bleibergwerken. Außerdem war eine Studie zu dem Ergebnis gekommen, dass das einzige Entwicklungspotential des infrastrukturschwachen Fakovići der Himbeeranbau sei – ein regionaltypischer Agrarzweig, aber oft zu ineffizient oder nur zum Nebeneinkommen betrieben.
Ingrids Verein setzte auf selbstorganisierte Erzeugergemeinschaften und begann diejenigen mit Know-how und Ausstattung zu fördern, die etwas bewegen wollten. Ich kann diesen Ort nur kurz und als stummer Beobachter dokumentieren und festhalten: als ein Dorf, das sich mithilfe von Beerenproduktion in kleinen, aber erfolgreichen Schritten aus jener Apathie herauszuschälen versucht, die auch Ingrid als das dominierende bosnische Lebensgefühl ansieht und das für Muslime wie Serben gleichermaßen gilt: „die tiefe Abwesenheit eines Gefühls von ‚Ich kann, wenn ich mit etwas unzufrieden bin, etwas ändern – und es kann gelingen‘“.
Ich sehe die Schule von Fakovići, in der mithilfe deutscher Spendengelder eine tägliche Mahlzeit für die Kinder ausgeteilt wird. Ich betrachte Häuser, bei denen Geld und Willen wenigstens für eine halbe neue Fassade gereicht haben, was die klaffenden Einschusswunden im alten Putz aber nur noch sichtbarer macht. Ich sehe die Drina friedlich, idyllisch dahinfließen. Ich spreche nichts, außer vielen „hvalas“ – „hvala, hvala“. Danke, danke – für die Gastfreundschaft.
Als wir eine der Projektverantwortlichen besuchen und zum Nachmittagskaffee im Garten sitzen und selbstgepflückte Himbeeren essen, ist auch eigentlich keine Sprache nötig. Im gemeinsamen, einfachen Genuss der roten Früchte ist das Entscheidende ohne Worte präsent. Wir kosten etwas Bedeutsames, etwas von der erhofften Zukunft, etwas Süßeres als die harte Gegenwart und die noch härtere Vergangenheit.
Ich notiere das erste Wort einer Reisevokabelliste: màline – Himbeeren. Und mit diesem Wort den Gedanken, wie schwer es ist, diese Gegend nur in ihrem Jetzt und nicht als Schauplatz des vergangenen Konflikts zu bereisen. Wo schon das unschuldige Obst seinen Platz, seine Rolle, seine Funktion in der Nachkriegsgeschichte hat.
Gastbeitrag von Lennart Will
Das serbokroatische Wort für Hass besteht in der Hauptsache aus fünf Konsonanten und ist für mich als Deutschmuttersprachler vor allem unaussprechlich: mŕžnja. In seiner Hackigkeit möchte ich es beinahe lautmalerisch nennen. Onomatopoetisch – denke ich. Vrrroom Vrrroom. Wuff wuff. Ratatat. Peng peng. Mŕžnja mŕžnja. Ein Wort wie eine Panzersperre. Ich benutze es zum ersten Mal im Sommer 2013. Es steht auf Seite 305 in Langenscheidts Universal-Wörterbuch Serbokroatisch, dem „unentbehrlichen Hilfsmittel auf einer Reise nach Jugoslawien“, 106 mal 72 Millimeter, siebzehnte Auflage 1994-oh-was-ist-alles-seitdem-passiert. Ratatat. Peng peng. Mŕžnja mŕžnja. Serbien, Serbien: Wie soll ich sprechen, wie soll ich denken, wer soll ich sein in diesem Land?
Sprachbunker
Genauer bin ich in Zentralserbien, auch Engeres Serbien genannt. Im Westen dieses engen oder engeren Serbiens oder Serbiens im engeren Sinne liegt Ivanjica, 12.000 Einwohner, und in Ivanjica die Straße Šljivići, die sich ausgehend vom einzigen Kreisverkehrs des Städtchens, teils geteert, teils unbefestigt einen Hügel hochzwingt. Und dort oben, wo die Straße aufhört, bevor Wälder und Himbeerplantagen beginnen im Abendsonnenlicht, steht rechterhand ein eingeschossiges Einfamilienhaus mit drei Zimmern und Bad.
Und in der Wohnküche ein Sofa und auf dem Sofa ich und in meinen Händen der weichgeblätterte Langescheidt. Und neben mir Miloš Grujović, 16 Jahre und ein paar Zentimeter größer als ich, mit kurzgeschorenem blonden Haar und aufgeweckten Augen, pubertierend und ein wenig Macho, der mir soeben mit einem provokanten Lächeln und einer noch provokanteren Geste auf Höhe seiner Kehle klarmacht, dass man alle Albaner umbringen müsste.
In den simplen Ein- bis Zwei-Wort-Sätzen, die Miloš verwenden muss, damit ich nachvollziehen kann, was er sagt, knittert sich die Sprache zu starren Sinnblöcken zusammen. „Albaner“ und „töten“ gehören hier so unvermeidlich zusammen wie „Soldat“ und „Held“ oder „Deutschland“ und „Arbeit“. Kleine Bunker, in denen man sich als gefühlter Analphabet kaum bewegen kann. Ich habe vor dieser Reise zwei Stunden eines Serbokroatischkurses besucht, davon abgesehen spreche ich kein Serbisch oder Kroatisch oder Kroatoserbisch, Bosnisch oder Montenegrinisch und auch keine verwandte slawische Sprache; habe mich also freiwillig in diese ungewisse Bunkerlandschaft begeben.
Wie eine Warnkarte ziehe ich das kleine gelbe Buch hervor. Miloš hat sich in den letzten 24 Stunden daran gewöhnt, dass ich mir damit einen diplomatischen Wartebereich, eine entmilitarisierte Zone schaffe, in der ich nach den richtigen Worten suchen kann. Jetzt wartet er auf meine Antwort. Seine Mutter Mirjana räumt uns gegenüber den Esstisch ab und lauscht. Ich beginne zu blättern...
Bi Äitsch
Bevor ich vor zwei Tagen über die serbische Grenze kam, verbrachte ich eine Woche in Sarajevo, fünf Tage davon als Teil einer Exkursionsgruppe. „Konfliktsensible Entwicklungszusammenarbeit in einer Post-Bürgerkrieg-Gesellschaft“, so war der Forschungsaufenthalt überschrieben, währenddessen wir ein rundes Dutzend internationaler Organisationen besuchten, die sich seit dem Ende des Bosnienkriegs 1995 in der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas angesiedelt haben.
OHC, UNDP, OHR, GIZ, ICMP, Akronymlabyrinthe, Korridore, Aufzüge, Metallscans, Besprechungsräume, Hosenanzüge, Krawatten, Abzeichen, Ränge, Flaggen und Fähnchen, Powerpointing, frustriertes Friedensdienstvokabular und politisch korrekte Fingerzeige, Aufschlussreiches hinter verschlossenen Türen, aber auch unnütze Antworten auf immergleiche Fragen.
Schnell, sehr schnell, so hatte ich das Gefühl, konnten wir uns im kosmopolitischen Sarajevo die aktuelle Lage des Landes erschließen lassen. Konnten lernen, wie man als „Internationaler“ über die politischen Wirren Ex-Jugoslawiens so denkt und schwadroniert. Konnten einstimmen in die deutschen und englischen Jammerchoräle über das unregierbare Bosnien-Herzegowina, einen „Failed State“, und lernten im Gespräch mit Sekretären, Institutsleitern und Heads of Office, locker mit den Buchstaben „BH“ [biː eɪtʃ] zu jonglieren.
Ein Land mit einer hochkomplexen politischen Geschichte, im Jargon der internationalen Fachkräfte wendig heruntergekürzt auf zwei beschwörende Lettern. „Bi Äitsch“ – wir wissen ja, wovon wir reden. Das Land, in dem 1984 noch die Olympischen Winterspiele stattgefunden hatten, versunken in den letzten und blutigsten Krieg inmitten Europas und seitdem nicht wieder recht auferstanden.
Ruiniert und innenpolitisch lahmgelegt von einer korrupten Regierung nach der anderen, noch immer im Griff agitierender Parteien, die für ihren eigenen Machtgewinn weiterhin die verschiedenen Volksgruppen – (muslimische) Bosniaken, (orthodoxe) Serben, (katholische) Kroaten – gegeneinander ausspielen. Bei all dem an der kurzen Leine der internationalen Gemeinschaft, der EU, UN und ihrer resignierenden Vertretungen. 29 Prozent Arbeitslosigkeit. 45 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Und zwei Drittel aller Unter-35-Jährigen würden das Land verlassen – wenn sie könnten. „Bi Äitsch“, alles klar!?
Anders soll meine eigene kleine Forschungsreise durch Ost-Bosnien und Serbien aussehen, beschloss ich in der kriegsgezeichneten Multikulti-Stadt. Anders mein Zugang, anders mein Blick, anders meine Wegziele. Schon jetzt habe ich genug von dem vermeintlichen Wissen darüber, wie Politik und Kriege „auf dem Balkan“ gemacht werden.
Ich will wissen, wer die Menschen unabhängig von all den Konflikten, den politischen Selbstverortungen und kollektiven Leidensgeschichten sind. Will den Krieg am liebsten gar nicht thematisieren, gar nicht versuchen zu verstehen, was ohnehin unfassbar war und noch immer ist. Will die maschinengewehrsalvenzerschossenen Fassaden als das ansehen, was sie sind: längst alltäglich geworden in fast zwei Nachkriegsjahrzehnten, höchstens eine touristische Attraktion. Und will gerade dadurch dahinter blicken können. Geradezu unpolitisch will ich reisen, den Leuten begegnen, als gäbe es keine Spuren von Massengräbern in der Nachbarschaft und als hätte ich kein Interesse an ihnen als Kriegswaisen, sondern nur eines an der Normalität ihres jetzigen Lebens.
Himbeerhoffnungen
Ich verlasse Sarajevo zusammen mit Ingrid, Leiterin einer kleinen Stuttgarter Hilfsorganisation, die ich im Zuge der Exkursion kennengelernt habe. Wir wollen zur gleichen Zeit Richtung Serbien aufbrechen, also schlägt sie mir vor, sie in ihrem Camper zu begleiten: zunächst zu ihrem Projektdorf Fakovići an der bosnisch-serbischen Grenze und damit im serbischen Landesteil Bosniens, der Republika Srpska; und einen Tag später dann über die Grenze hinaus nach Zentralserbien.
Dankbar für diese Chance willige ich ein und so führt mich mein „unpolitischer“ Reiseversuch zuallererst just in einen kleinen Ort, dessen Antlitz und wirtschaftliche Lage symptomatisch für die Kriegsfolgen stehen könnten, der nur etwa dreißig Kilometer von Srebrenica liegt und zudem am Ufer der Drina, eines Grenzflusses, so geschichtsträchtig und geopolitisch aufgeladen wie schwerlich ein zweiter.
Wenn hier jemand einen Job hat, arbeitet er in Sechstagesschichten in den nahegelegenen Zink- und Bleibergwerken. Außerdem war eine Studie zu dem Ergebnis gekommen, dass das einzige Entwicklungspotential des infrastrukturschwachen Fakovići der Himbeeranbau sei – ein regionaltypischer Agrarzweig, aber oft zu ineffizient oder nur zum Nebeneinkommen betrieben.
Ingrids Verein setzte auf selbstorganisierte Erzeugergemeinschaften und begann diejenigen mit Know-how und Ausstattung zu fördern, die etwas bewegen wollten. Ich kann diesen Ort nur kurz und als stummer Beobachter dokumentieren und festhalten: als ein Dorf, das sich mithilfe von Beerenproduktion in kleinen, aber erfolgreichen Schritten aus jener Apathie herauszuschälen versucht, die auch Ingrid als das dominierende bosnische Lebensgefühl ansieht und das für Muslime wie Serben gleichermaßen gilt: „die tiefe Abwesenheit eines Gefühls von ‚Ich kann, wenn ich mit etwas unzufrieden bin, etwas ändern – und es kann gelingen‘“.
Ich sehe die Schule von Fakovići, in der mithilfe deutscher Spendengelder eine tägliche Mahlzeit für die Kinder ausgeteilt wird. Ich betrachte Häuser, bei denen Geld und Willen wenigstens für eine halbe neue Fassade gereicht haben, was die klaffenden Einschusswunden im alten Putz aber nur noch sichtbarer macht. Ich sehe die Drina friedlich, idyllisch dahinfließen. Ich spreche nichts, außer vielen „hvalas“ – „hvala, hvala“. Danke, danke – für die Gastfreundschaft.
Als wir eine der Projektverantwortlichen besuchen und zum Nachmittagskaffee im Garten sitzen und selbstgepflückte Himbeeren essen, ist auch eigentlich keine Sprache nötig. Im gemeinsamen, einfachen Genuss der roten Früchte ist das Entscheidende ohne Worte präsent. Wir kosten etwas Bedeutsames, etwas von der erhofften Zukunft, etwas Süßeres als die harte Gegenwart und die noch härtere Vergangenheit.
Ich notiere das erste Wort einer Reisevokabelliste: màline – Himbeeren. Und mit diesem Wort den Gedanken, wie schwer es ist, diese Gegend nur in ihrem Jetzt und nicht als Schauplatz des vergangenen Konflikts zu bereisen. Wo schon das unschuldige Obst seinen Platz, seine Rolle, seine Funktion in der Nachkriegsgeschichte hat.
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