Sonntag, 21. Juni 2015

Hass und Himbeeren

Ein „unpolitischer“ Reiseversuch zwischen Sarajevo und Belgrad

Gastbeitrag von Lennart Will

Das serbokroatische Wort für Hass besteht in der Hauptsache aus fünf Konsonanten und ist für mich als Deutschmuttersprachler vor allem unaussprechlich: mŕžnja. In seiner Hackigkeit möchte ich es beinahe lautmalerisch nennen. Onomatopoetisch – denke ich. Vrrroom Vrrroom. Wuff wuff. Ratatat. Peng peng. Mŕžnja mŕžnja. Ein Wort wie eine Panzersperre. Ich benutze es zum ersten Mal im Sommer 2013. Es steht auf Seite 305 in Langenscheidts Universal-Wörterbuch Serbokroatisch, dem „unentbehrlichen Hilfsmittel auf einer Reise nach Jugoslawien“, 106 mal 72 Millimeter, siebzehnte Auflage 1994-oh-was-ist-alles-seitdem-passiert. Ratatat. Peng peng. Mŕžnja mŕžnja. Serbien, Serbien: Wie soll ich sprechen, wie soll ich denken, wer soll ich sein in diesem Land?

Sprachbunker

Genauer bin ich in Zentralserbien, auch Engeres Serbien genannt. Im Westen dieses engen oder engeren Serbiens oder Serbiens im engeren Sinne liegt Ivanjica, 12.000 Einwohner, und in Ivanjica die Straße Šljivići, die sich ausgehend vom einzigen Kreisverkehrs des Städtchens, teils geteert, teils unbefestigt einen Hügel hochzwingt. Und dort oben, wo die Straße aufhört, bevor Wälder und Himbeerplantagen beginnen im Abendsonnenlicht, steht rechterhand ein eingeschossiges Einfamilien­haus mit drei Zimmern und Bad.

Und in der Wohnküche ein Sofa und auf dem Sofa ich und in meinen Händen der weichgeblätterte Langescheidt. Und neben mir Miloš Grujović, 16 Jahre und ein paar Zentimeter größer als ich, mit kurzgeschorenem blonden Haar und aufgeweckten Augen, pubertierend und ein wenig Macho, der mir soeben mit einem provokanten Lächeln und einer noch provokanteren Geste auf Höhe seiner Kehle klarmacht, dass man alle Albaner umbringen müsste.

In den simplen Ein- bis Zwei-Wort-Sätzen, die Miloš verwenden muss, damit ich nachvollziehen kann, was er sagt, knittert sich die Sprache zu starren Sinnblöcken zusammen. „Albaner“ und „töten“ gehören hier so unvermeidlich zusammen wie „Soldat“ und „Held“ oder „Deutschland“ und „Arbeit“. Kleine Bunker, in denen man sich als gefühlter Analphabet kaum bewegen kann. Ich habe vor dieser Reise zwei Stunden eines Serbokroatischkurses besucht, davon abgesehen spreche ich kein Serbisch oder Kroatisch oder Kroatoserbisch, Bosnisch oder Montenegrinisch und auch keine verwandte slawische Sprache; habe mich also freiwillig in diese ungewisse Bunkerlandschaft begeben.

Wie eine Warnkarte ziehe ich das kleine gelbe Buch hervor. Miloš hat sich in den letzten 24 Stunden daran gewöhnt, dass ich mir damit einen diplomatischen Wartebereich, eine entmilitarisierte Zone schaffe, in der ich nach den richtigen Worten suchen kann. Jetzt wartet er auf meine Antwort. Seine Mutter Mirjana räumt uns gegenüber den Esstisch ab und lauscht. Ich beginne zu blättern...

Bi Äitsch

Bevor ich vor zwei Tagen über die serbische Grenze kam, verbrachte ich eine Woche in Sarajevo, fünf Tage davon als Teil einer Exkursionsgruppe. „Konfliktsensible Entwicklungszusammenarbeit in einer Post-Bürgerkrieg-Gesellschaft“, so war der Forschungsaufenthalt überschrieben, währenddessen wir ein rundes Dutzend internationaler Organisationen besuchten, die sich seit dem Ende des Bosnienkriegs 1995 in der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas angesiedelt haben.

OHC, UNDP, OHR, GIZ, ICMP, Akronym­labyrinthe, Korridore, Aufzüge, Metallscans, Besprechungsräume, Hosenanzüge, Krawatten, Abzeichen, Ränge, Flaggen und Fähnchen, Powerpointing, frustriertes Friedensdienstvokabular und politisch korrekte Fingerzeige, Aufschlussreiches hinter verschlossenen Türen, aber auch unnütze Antworten auf immer­gleiche Fragen.

Schnell, sehr schnell, so hatte ich das Gefühl, konnten wir uns im kosmopolitischen Sarajevo die aktuelle Lage des Landes erschließen lassen. Konnten lernen, wie man als „Internationaler“ über die politischen Wirren Ex-Jugoslawiens so denkt und schwadroniert. Konnten einstimmen in die deutschen und englischen Jammerchoräle über das unregierbare Bosnien-Herzegowina, einen „Failed State“, und lernten im Gespräch mit Sekretären, Institutsleitern und Heads of Office, locker mit den Buchstaben „BH“ [biː eɪtʃ] zu jonglieren.

Ein Land mit einer hochkomplexen politischen Geschichte, im Jargon der internationalen Fachkräfte wendig heruntergekürzt auf zwei beschwörende Lettern. „Bi Äitsch“ – wir wissen ja, wovon wir reden. Das Land, in dem 1984 noch die Olympischen Winterspiele stattgefunden hatten, versunken in den letzten und blutigsten Krieg inmitten Europas und seitdem nicht wieder recht auferstanden.

Ruiniert und innenpolitisch lahmgelegt von einer korrupten Regierung nach der anderen, noch immer im Griff agitierender Parteien, die für ihren eigenen Machtgewinn weiterhin die verschiedenen Volksgruppen – (muslimische) Bosniaken, (orthodoxe) Serben, (katholische) Kroaten – gegeneinander ausspielen. Bei all dem an der kurzen Leine der internationalen Gemeinschaft, der EU, UN und ihrer resignierenden Vertretungen. 29 Prozent Arbeitslosigkeit. 45 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Und zwei Drittel aller Unter-35-Jährigen würden das Land verlassen – wenn sie könnten. „Bi Äitsch“, alles klar!?

Anders soll meine eigene kleine Forschungsreise durch Ost-Bosnien und Serbien aussehen, beschloss ich in der kriegsgezeichneten Multikulti-Stadt. Anders mein Zugang, anders mein Blick, anders meine Wegziele. Schon jetzt habe ich genug von dem vermeintlichen Wissen darüber, wie Politik und Kriege „auf dem Balkan“ gemacht werden.

Ich will wissen, wer die Menschen unabhängig von all den Konflikten, den politischen Selbstverortungen und kollektiven Leidensgeschichten sind. Will den Krieg am liebsten gar nicht thematisieren, gar nicht versuchen zu verstehen, was ohnehin unfassbar war und noch immer ist. Will die maschinengewehrsalvenzerschossenen Fassaden als das ansehen, was sie sind: längst alltäglich geworden in fast zwei Nachkriegsjahrzehnten, höchstens eine touristische Attraktion. Und will gerade dadurch dahinter blicken können. Geradezu unpolitisch will ich reisen, den Leuten begegnen, als gäbe es keine Spuren von Massengräbern in der Nachbarschaft und als hätte ich kein Interesse an ihnen als Kriegswaisen, sondern nur eines an der Normalität ihres jetzigen Lebens.

Himbeerhoffnungen

Ich verlasse Sarajevo zusammen mit Ingrid, Leiterin einer kleinen Stuttgarter Hilfsorganisation, die ich im Zuge der Exkursion kennengelernt habe. Wir wollen zur gleichen Zeit Richtung Serbien aufbrechen, also schlägt sie mir vor, sie in ihrem Camper zu begleiten: zunächst zu ihrem Projektdorf Fakovići an der bosnisch-serbischen Grenze und damit im serbischen Landesteil Bosniens, der Republika Srpska; und einen Tag später dann über die Grenze hinaus nach Zentralserbien.

Dankbar für diese Chance willige ich ein und so führt mich mein „unpolitischer“ Reiseversuch zuallererst just in einen kleinen Ort, dessen Antlitz und wirtschaftliche Lage symptomatisch für die Kriegsfolgen stehen könnten, der nur etwa dreißig Kilometer von Srebrenica liegt und zudem am Ufer der Drina, eines Grenzflusses, so geschichtsträchtig und geopolitisch aufgeladen wie schwerlich ein zweiter.

Wenn hier jemand einen Job hat, arbeitet er in Sechstagesschichten in den nahegelegenen Zink- und Bleibergwerken. Außerdem war eine Studie zu dem Ergebnis gekommen, dass das einzige Entwicklungspotential des infrastrukturschwachen Fakovići der Himbeeranbau sei – ein regionaltypischer Agrarzweig, aber oft zu ineffizient oder nur zum Nebeneinkommen betrieben.

Ingrids Verein setzte auf selbstorganisierte Erzeugergemeinschaften und begann diejenigen mit Know-how und Ausstattung zu fördern, die etwas bewegen wollten. Ich kann diesen Ort nur kurz und als stummer Beobachter dokumentieren und festhalten: als ein Dorf, das sich mithilfe von Beerenproduktion in kleinen, aber erfolgreichen Schritten aus jener Apathie herauszuschälen versucht, die auch Ingrid als das dominierende bosnische Lebensgefühl ansieht und das für Muslime wie Serben gleichermaßen gilt: „die tiefe Abwesenheit eines Gefühls von ‚Ich kann, wenn ich mit etwas unzufrieden bin, etwas ändern – und es kann gelingen‘“.

Ich sehe die Schule von Fakovići, in der mithilfe deutscher Spendengelder eine tägliche Mahlzeit für die Kinder ausgeteilt wird. Ich betrachte Häuser, bei denen Geld und Willen wenigstens für eine halbe neue Fassade gereicht haben, was die klaffenden Einschusswunden im alten Putz aber nur noch sichtbarer macht. Ich sehe die Drina friedlich, idyllisch dahinfließen. Ich spreche nichts, außer vielen „hvalas“ – „hvala, hvala“. Danke, danke – für die Gastfreundschaft.

Als wir eine der Projektverantwortlichen besuchen und zum Nachmittagskaffee im Garten sitzen und selbstgepflückte Himbeeren essen, ist auch eigentlich keine Sprache nötig. Im gemeinsamen, einfachen Genuss der roten Früchte ist das Entscheidende ohne Worte präsent. Wir kosten etwas Bedeutsames, etwas von der erhofften Zukunft, etwas Süßeres als die harte Gegenwart und die noch härtere Vergangenheit.

Ich notiere das erste Wort einer Reisevokabelliste: màline – Himbeeren. Und mit diesem Wort den Gedanken, wie schwer es ist, diese Gegend nur in ihrem Jetzt und nicht als Schauplatz des vergangenen Konflikts zu bereisen. Wo schon das unschuldige Obst seinen Platz, seine Rolle, seine Funktion in der Nachkriegsgeschichte hat. 

Trampelpfade

Es ist nicht weit nach Srebrenica, und auch die anderen Ortsnamen, die mir aus einschlägigen Reportagen in Erinnerung geblieben sind – Goražde oder Žepa –, sind auf der Karte schnell auszumachen. Dennoch, ich habe kein Interesse daran. Welche Erfahrung sollte ich dort suchen, was sollte ich dort sehen, was mir TV-Dokumentationen, Artikel oder die Graphic Novels von Joe Sacco nicht schon erzählt hätten. Was könnte ich die Menschen dort fragen, ohne mir zuzugeben, dass ich der Sensation des unerklärlichen Bösen, mithin einer touristischen Neugier gefolgt wäre. Nein, die direkte Auseinandersetzung mit den noch immer unversöhnten Leichen will ich weiter meiden und mich an der Gegenwart interessiert zeigen.

Ich lasse mich von Ingrid mit über die Grenze nehmen und am frühen Nachmittag im Landesinneren, bei Požega, wo sie Richtung Norden/Belgrad abbiegt, absetzen. Von hier aus möchte ich achtzig Kilometer nach Südosten trampen, um das serbisch-orthodoxe Kloster Studenica zu besuchen. Mein erster Autostopp nimmt mich ein paar Kilometer bis Arilje mit. Ich betrachte die abgetragene Arbeitskleidung des Fahrers, dunkelrote, eingetrocknete Flecken. Obwohl es offensichtlich ist, frage ich wie zur Vergewisserung, aber eigentlich nur um irgendetwas zu sagen: „Màline?“ Natürlich màline – an jedem in diesem Landesteil scheint der rote Saft zu kleben.

Himbeeren, Himbeeren für den Export in die EU, in die sich Serbien seit seinem Mitgliedschaftsantrag von 2009 so sehnsüchtig hineinverhandeln will – wenn da nur nicht die roten Flecken wären, rote Flecken, die vor allem im Ausland nicht vergessen werden wollen. Rote Flecken ... ich entkomme nicht dem Geschichtsgedächtnis. Wurde dieser Mann wohl auch vertrieben oder hat er vertrieben, gehört er zu denen, die getötet, oder zu jenen, die geduldet, vielleicht zu jenen, die nur gelitten haben? Ich frage nichts mehr, bis ich aussteige. Hvala, hvala.

In Arilje gelingt es mir nach einiger Wartezeit, ein zweites Auto anzuhalten und die augenscheinlich muslimische Familie darin, die gleichfalls direkt von einer Himbeerplantage kommt, zu überzeugen, mich eine kurze Strecke mitzunehmen. Ich beginne, auf mich allein gestellt und ohne Übersetzerin, meinen Langenscheidt zu benutzen. Die Viertelstunde bis Prilike reicht für ein paar gebrochene Sätze und ich erkläre, dass Studenica mein Tagesziel sei.

Ich ernte fragende bis ablehnende Blicke und Gesten, der junge Fahrer rümpft und hält sich im Rückspiegel die Nase, sein Vater auf dem Beifahrersitz antwortet mit Flachsereien, die in etwa besagen, dass mein Ziel gegen den Himmel stinkt. Und ich verstehe: Wie kann ich nur so naiv auf die Neutralität einer Ortsangabe vertrauen? Einer Familie der bosniakischen Minderheit mit Studenica, einem serbisch-orthodoxen Kloster kommen? Natürlich ist das ein Statement. Und es stinkt. Und ist nur Anlass zum Lachen, weil ich ein unwissender Deutscher bin, mit einem viel zu großen Rucksack und einem viel zu kleinen Bewusst­sein von den ungeschriebenen ethnisch-kulturellen Gesetzen dieses Landes. Ein Tramper auf naiven Trampel-Pfaden.

Pfade, die mich an Worten vorbei zu Urteilen und zu versteinerten Erinnerungen führen. Und steinerne Sprachbunker überall. Sprachbunker, in denen ich mir den Kopf anstoße, und saftige Himbeeren, die zweideutige Flecken hinterlassen – sie halten den Konflikt beständig wach. Soll es für mich wirklich kein Serbien, keinen Balkan ohne das geben? Die Mutter, mit der ich mir die Rückbank teile, hält eine große Plastikwanne auf ihrem Schoß. Nach einer Weile lüftet sie das Tuch, das darüber gedeckt ist. Die Wanne ist voll mit gekochtem Fleisch. Sie bietet mir davon an und ich nehme Stück um Stück. Ich bin nicht der Feind. Hvala, hvala.

K.o.

Mein Ziel erreiche ich an diesem Tag nicht mehr. Stattdessen strande ich in Ivanjica und finde mich am Abend im Haus der Grujovićs wieder. Ratko, Miloš’ Vater hat mich kurzerhand eingeladen, bei seiner Familie zu übernachten, als ich ihn gegen sechs Uhr auf der Straße anspreche, um nach dem Weg ins immer noch vierzig Kilometer entfernte Studenica zu fragen. Er hat, ohne Gegenreden zuzulassen, meinen Rucksack genommen und in seinen Zweiergolf gepackt, mich zu Hause seiner Frau und dem jüngsten seiner drei Söhne vorgestellt und schließlich überzeugt, nicht nur eine, sondern wenigstens zwei Nächte zu bleiben, um etwas Ruhe in die Sache zu bringen. Okay, sage ich. Hvala, hvala – auch für das überbordende Abendbrot, das man mir hinstellt. Und beziehe Miloš’ Zimmer und das Bett seines Bruders, direkt neben dem seinen.

Der Junge – er hat Sommerferien, besucht sonst ein Internat in der nächstgrößeren Stadt Kraljevo und möchte später auf eine Polizeischule gehen – wird die nächsten 24 Stunden mein Lehrer und Begleiter sein. Er nennt mich bereits prijatelj – Freund – und es ist ein stummer Vertrag in interkultureller Kom­munikation, den wir für den kurzen „Sprachurlaub“ schließen. Miloš’ Anteil ist es, schlicht zu erdulden, dass jeder unserer Dialoge zwangsläufig eine Lektion in Serbokroatisch be­inhaltet.

Seine Geduld kennt tatsächlich kaum Grenzen und meine Vokabelliste wächst. Wichtiger aber noch sind die nicht-sprachli­chen Lektionen, um die ich nicht umhin komme. Am zweiten Tag frage ich Miloš bei einem Spaziergang durch Ivanjica, ob die Kirche im Ort katholisch oder orthodox sei. Er schaut mich irritiert an, aus aufge­rissenen Augen. Ich sei doch hier in Serbien. Es gebe in Serbien doch keine katholischen Kirchen. Nein, nein, nicht katholisch! Und sein Zeigefinger hebt sich dabei.

Es ist eine meiner schon fast bewusst naiven und doch ernst gemeinten Fragen gewesen. Ich möchte die Option einer irgendwie gearteten Vielfalt, wie ich sie als Normalität begreife und wie sie sich das Jugoslawien, das es nicht mehr gibt, auf die Fahnen schrieb, nicht per se ausschließen. Man könnte auch sagen: die Realität nicht akzeptieren. Doch ich muss einsehen, in Ivanjica gibt es keine muslimi­sche oder sonstige Minorität, es ist durch und durch Engeres Serbien, orthodoxe Kirche, kyril­lisches Alphabet.

Und wo wir schon dabei sind: ich lerne von Miloš kein Serbokroatisch, wie auf dem Cover meines Langenscheidts steht, sondern Serbisch, das müsse man klar trennen. Und als ich eine Frage mit dem Pronomen „tko“ (wer) beginne, schüttelt mein Lehrer seinen soldatisch frisierten Kopf und berichtigt mich: „Tko“ ist Kroatisch. Es muss „ko“ heißen, das ist Serbisch (und damit richtig). Einsilbige Sprachbunker. Ich stoße mir den Schädel. Ich gebe mich k.o.

Suburbia

Wie gern würde ich eine linguistische Diskussion beginnen. Doch unser stummes Übereinkommen schreibt mir eine andere Rolle zu. Durch meine exotische Anwesenheit beschere ich dem Teenager einen besonderen Ferientag und schlage eine, wenn auch nur kurzweilige, Brücke zum Westen. Nicht zu einem Westeuropa der Toleranz, der intellektuellen Differenzierungen und des transkulturellen Interesses, sondern vor allem zu einem Utopia des Wohlstands.

Mehrmals fragt Miloš mich über die Arbeitsmöglichkeiten und Lohnhöhen in meiner Heimat aus und legt nahe, dass er am liebsten sofort mit mir käme, um für die begehrten Euro schwarz zu arbeiten und Geld nach Hause schicken zu können. Mich beeindruckt sein Flehen, sein Ernst, mit dem er versucht, die Dinge in die Hand zu nehmen. Die bloße Vorstellung, ich könnte die Eintrittskarte nach Deutschland sein, beflügelt ihn. Mich aber macht sie noch sprachloser.

Wie könnte ich mit meinem zwar wachsenden, aber immer noch rudimentären Wortschatz das Fangnetz aus Einreisebestimmungen, Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen sichtbar machen – vor allem, da ich solche Erklärungen direkt in eine Diskussion der deutschen und EU-Außenpolitik münden sehe – und mich gleichzeitig dennoch als hilfsbereit und verständnisvoll zeigen.

Wie kann ich Miloš’ Traum mit Respekt begegnen und ihm gleichzeitig etwas von der Illusion nehmen, dass ein Fuß auf deutschem Boden genüge, um sich aller Sorgen zu entledigen. Ich kann nur abkürzen: dass „alles nicht so einfach“ sei. Und plötzlich sehe ich, wie mich aus den jugendlichen Augen ein ganzes Land anblickt, das sich außerhalb des durchschnittlichen westeuropäischen Wahrnehmungsradius befindet und sich von der EU abgeschnitten fühlt.

Am übernächsten Tag im Kloster Studenica werde ich diesen Eindruck von Janko bestätigt bekommen, einem Noviziats­anwärter, der mir in perfektem Englisch Einblick in die serbische Psyche geben wird: „Ich betrachte Serbien als peripher, als eine Art Vorort zum Rest von Europa und einer allge­meinen europäischen Kultur. Wir verpassen gewissermaßen das Schritttempo vom Rest der Welt. Und glaub mir, es ist hierzulande nichts Besonderes daran, dass man das so sieht.“

Und in Belgrad werde ich Branka Jovanovic, Kulturaktivistin und frühere (heute resignierte) Friedensfachkraft besuchen, die dieser Psychoanalyse hinzufügen wird: „Wir leben in einem Interregnum. Die Leute taumeln. Viele haben kein soziales, politisches Wissen, was sie in einem neoliberalen System sollen, daher auch die starke Verarmung. Wir sind am Anfang eines Prozesses, der nicht absehbar ist …. Uns ist die Dimension der Zukunft verschlossen.“

Abrechnungen

Auch die Grujovičs bauen Himbeeren an. Als könnte es nicht anders sein. Und auch sie sind auf dieses Nebeneinkommen angewiesen. Gerade ist Erntezeit und ich begleite meinen prijatelj und seine Mutter am Nachmittag für ein paar Stunden auf die kleine Plantage oben auf dem Hügel. Ratko ist in der Frühe nach Belgrad aufgebrochen, wo er im Zwei-Wochen-Turnus und in 24-Stunden-Schichten als Kapitän eines Transportschiffs auf der Donau arbeitet.

Miloš rechnet für mich aus, dass Mirjana mit ihrem Job als Zimmermädchen in einem kleinen Hotel etwa 200 Euro im Monat ver­dient. Dann fragt er mich, was wir in Deutschland für ein Kilo Himbeeren zahlen – und rechnet mir wiederum vor, wieviel von diesen rund zwölf Euro ihnen hier ungefähr als Stundenlohn verbleibt: ein Euro. Es liegt kein Vorwurf in dieser Aussage, aber das verzweifelte „sieh her“ und eine ungerichtete Empörung über die ungleiche Verteilung des Wohlstands selbst innerhalb Europas funkeln mir wieder einmal aus Miloš’ Augen entgegen.

Und dann kommt der Abend. Ich sitze bei meiner Gastfamilie auf dem Sofa, Mirjana bereitet vor uns das Essen zu und neben mir sagt also mein neuer Freund „albanci“ und macht mit einem Grinsen eine abrupte Handbewegung über seine Kehle. Für ihn ist es ein Scherz. Eine Normalität, so wie überzeugte Kosovo-Albaner wohl auch über Serben scherzen. So alltäglich, denke ich mir, wie wohl damals auch das Ab­schlachten der bosniakischen Nachbarn alltäglich … und wie wohl 1999 auch das Morden im Kosovo …. Doch damit wollte ich ja niemanden konfrontieren.

Und dennoch bin ich herausgefordert zu einer Antwort, muss eine Haltung, die ich noch nicht klar habe, zu einem unge­lösten Konflikt, den ich nur in Ansätzen durchblicke, in einer Sprache äußern, die ich nicht spreche. Und dies am besten unter Berücksichtigung der Tatsache, dass auch Deutschland bei den NATO-Bombardierungen 1999 eine schwierige Rolle spielte. Und vielleicht auch unter Hinweisen darauf, dass mein Freund genau jene Stereotype bedient, derentwegen es manchen schwerfällt, sich Serbien als EU-Mitglied vorzustellen. Muss ich tatsächlich dem unreflektierten chauvinistischen Witz eines Teenagers Bedeutung verleihen, indem ich anders als mit einem „Ne, ne!“ reagiere?

Ja, nur einmal will ich mit dieser banalen Verachtung abrechnen. Ich forme in Gedank­en ein Statement, entferne alle komplizierte Grammatik daraus, reduziere es auf vier Worte und beginne, in meiner gelben Wartezone nach dem für Hass zu suchen. (Wie ich später recherchiere, schreibt es sich im kroatischen wie im bosnischen und serbischen Dialekt bezeichnenderweise gleich.)

Ich würde gern sagen, dass mir diese gehemmte Diskussion nicht schmeckt und ich lieber über das reden würde, was Mirjana gerade auftischt. Nicht die bittere Buchstabensuppe „mŕžnja“, sondern die Zutaten für die wunderbaren „Sarma“-Krautrouladen möchte ich benennen. Mirjana wird mir das Rezept später diktieren:

- 2 manje glavice kupusa obariti po 5 min pa zatim skinuti listove
- ½ kg mes, 250g svinjskog mesa, 250g govedjeg mesa, das heißt Rinder- und Schweinehack
- 200g šangarepe
- 100g luka, nämlich Zwiebel
- 200g pirinače (Reis)
und kein mŕžnja.

Ich halluzinierte, dieses Land sei vielleicht satt von den Gräueln der Neunziger und ich würde schon nicht dem plakativen Nationalismus begegnen, den man den Serben gern zuschreibt. Doch ich sehe ein, dass die Realität anders aussieht, dass die fest zementierten ethnischen Identitäten Teil der Normalität sind und dass meine unpolitische Unternehmung von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen ist.

Nach weiterem Blättern holpere ich den Satz: Mržnja nema budúćnost. Hass hat keine Zukunft. Ich beglückwünsche mich inner­lich zu dieser Sentenz, die bei Mirjana auf nickende Zustimmung stößt. Der Scherz ist damit auch gegessen und wir können uns zu Tisch setzen. Und mit ungebroche­nem Interesse lasse ich mir das ganze Abendbrot durchbuchstabieren: sri für Käse, šunka für Schinken, hljèp für Brot, slatko für Zucker. Und kein mŕžnja. Und zum Nachtisch Himbeeren. Màline mit slatko. Und ohne mŕžnja.

Kapitulation

Zum Abschied ziehe ich aus meinem Rucksack zwei Tüten Süßigkeiten, ein kleines Hvala-hvala. Es sind Himbeer-Bonbons. Ich hatte sie in Deutschland genau für solche unvorhergesehenen Gelegenheiten, aber natürlich im Unwissen darüber gekauft, dass ich damit Eulen nach Athen tragen würde. Die Grujovićs wollen natürlich nichts von mir annehmen und geben mir schließlich ihrerseits ein Geschenk, das meinem Bemühen um diplomatische Neutralität einen letzten Strich durch die Rechnung macht.

Feierlich über­reicht mir Mirjana eine olivgrüne Barettmütze, die bis eben noch als nostalgisches Herzstück eines kleinen Schreins zwischen Heiligen­bildern über dem Fernseher exponiert gewesen war. Es ist nicht irgendein Barett, sondern das eines Tschetnik-Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg – ob Original oder Imitat, ich möchte es nicht wissen. Die Tschetniks waren serbische Milizen, die sich in den verschiedenen Kriegen des 20. Jahrhunderts einen unzweifelhaften brutalen Ruf erarbeiteten und für die anderen Ethnien das Feindbild schlechthin darstellen, Symbolträger der Gefahr des serbischen Nationalismus.

In den Vierzigerjahren waren sie berüchtigt für Kollaborationen mit den Nazis und Morde an jugoslawischen Partisanen. Während der Jugoslawienkriege in den Neunzigern kämpften serbische Freischärler im Andenken an ihre Vorkämpfer unter dem Namen Tschetniks in Kroatien und Bosnien – und machten zum Teil durch brutale Kriegsverbrechen von sich reden. Trotz alldem wird die Tschetnik-Tradition offenbar weiterhin unge­hindert gefeiert und ist man stolz auf jene Insignien, die für „die Anderen“ und auch jeden neutralen Beobachter schlimme Erinnerungen bedeuten. In einem letzten Aufbegehren der Neutralität versuche ich zusammenzustottern, dass ich dieses Geschenk nicht annehmen kann, wohlwissend, dass ich es annehmen muss. Ich unterzeichne innerlich meine Kapitulation und verwahre das Ding unter Miloš’ stolzen Blicken vorsichtig in meinem Rucksack.

Und so setze ich die „unpolitische“ Reise fort, im Rücken zentnerschwer das Andenken an eine Truppe, die sich für ihre Gräueltaten an den Bosniaken vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien verantworten musste – darunter möglicherweise auch Morde an Verwandten meiner Autostopp-Fahrer? Ich weiß es nicht, wie ich so vieles nicht weiß, und behaupte, dass ich es auch lieber nicht wissen möchte. Ich nehme von Ivanjica den einzigen Bus in Richtung Studenica, der aber nur auf der Hälfte der Strecke fährt.

Für die rest­lichen Kilometer halte ich wieder ein Auto an. Es gelingt prompt, zwei Frauen halten in einem Zweitürer, in den ich mich und mein Gepäck quetschen darf. Sie sind Mitarbeiterinnen einer Organisation für Konfliktforschung. Ausgerechnet. Knappe englische Sentenzen wechselnd, jagen wir über die unbefestigte und kurvige Hochplateaustraße. Fest und fester halte ich meinen „kontaminierten“ Rucksack. Und wundere mich nicht mehr, sondern gewöhne mich daran, dem Kriegsthema wie einer vorbestimmten Wiederholung immer wieder begegnen zu müssen. Und die Zwangsneurose der ethnischen Verwerfungen ebenso wenig loszuwerden und der ungewissen Zukunft ebenso wenig entkommen zu können wie die Einwohner dieses Landes selbst.

Und als ich einige Tage später auf einem Flohmarkt in Belgrad einen serbischsprachigen Comic suche, um in naiven Sprechblasen vielleicht ganz neue, unschuldige Wörter lernen zu können, und der Verkäufer eines Bücherstandes meiner Übersetzerin daraufhin erklärt, ich solle eines der neueren Hefte nehmen, weil die älteren aus jugoslawischer Zeit stammten und noch Spuren der serbokroatischen Kunstsprache, mithin also kroatische Wörter enthielten und darum mein Bedürfnis, wahres Serbisch zu lernen, nicht erfüllen würden –, muss ich längst nicht mehr den Kopf schütteln. Denn ich hatte einen guten Lehrer für Serbisch und das Engere Serbien und Serbisch im engeren Sinne. Hvala, hvala, Miloš, unentbehrlicher Helfer auf meiner Reise durch Ex-Jugoslawien. Ich hoffe, die Himbeer-Bonbons haben dir geschmeckt. Einfach so und gut. Ich hoffe es sehr.

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